Rehau New Ventures

Better Thinking

14. Oktober 2021, 13:31
Nils Wagner

Über 3 Mrd Euro Umsatz, über 20.000 Mitarbeiter, 170 Bürostandorte weltweit: Rehau aus dem fränkischen Rehau ist einer der berühmten Hidden Champions, beliefert die großen Automobiler genauso wie Boeing, wurde einst als Zulieferer für die VW-Käfer-Produktion groß und ist heute ein Global Player. Die Möbelbrache ist eines von fünf Geschäftsfeldern – mit deutlich mehr Aktivitäten als der Kantenbandproduktion. Die INSIDE-Redakteure Eva Ernst und Simon Feldmer haben Nils Wagner, Vertreter der dritten Generation der Inhaberfamilie Wagner, getroffen – und am Ende darüber gesprochen, wie sich ein Gigant wie Rehau verändern muss, um auch fit für die Zukunft zu bleiben.


INSIDE: Herr Wagner, wir sind Rehau bislang in erster Linie als Zulieferer für die Möbel- und Küchenmöbelindustrie begegnet. Sie sind Geschäftsführer des neu gegründeten Unternehmens Rehau New Ventures, das kürzlich als eigenständige Säule innerhalb der Rehau-Gruppe definiert wurde. Welche Verbindung besteht zwischen den Aktivitäten, mit denen wir in der Möbelbranche bislang Berührung hatten, und Rehau New Ventures?
Nils Wagner: Als Möbelzulieferant haben wir unsere Aktivitäten auf der ganzen Welt verteilt. Nicht alle Märkte entwickeln sich wie die mitteleuropäischen. In China und Indien haben wir in den gehobeneren Preissegmenten eine Marktführerposition. Dort treten wir nicht nur als Kantenband- oder Oberflächen-Lieferant auf, sondern bieten Systemlösungen. Wir sind dort von der ganzen Wertschöpfung her anders aufgestellt als in Europa. Bei New Ventures unterstützen wir diese Ansätze, indem wir uns spezifisch mit neuen Geschäftsmodellen auseinandersetzen und Lösungen entwickeln, um unsere Kunden besser bedienen zu können. Beispielsweise über Bestellplattformen oder Geschäftsmodelle, in denen wir Services bis hin zum Endkunden durchreichen. Wer eine Küche mit Rehau-Bauteilen kauft, könnte sich beispielsweise als Endkunde registrieren lassen und hätte dadurch einen speziellen Garantieanspruch. Mit solchen Themen positionieren wir uns als interner Entwicklungsdienstleister, nicht nur im Bereich Küche, auch im Wohnmöbel- oder Badezimmermöbelbereich.

Entwickelt Rehau New Ventures denn in erster Linie Aktivitäten weiter, die bei Rehau im Unternehmen schon vorhanden sind? Oder würden Sie auch als Finanzinvestor aktiv werden, wenn es ein interessantes Angebot gäbe?
Das Thema New Ventures ist vor einigen Jahren durch die Erkenntnis entstanden, dass Rehau sich fitmachen muss für Trends wie Digitalisierung oder gegen gewisse disruptive Tätigkeiten in verschiedenen Branchen gewappnet sein muss. Inzwischen sind diese Gedanken gereift, und wir sind jetzt eine eigenständige Säule innerhalb der Rehau-Gruppe. Wir verfügen über Kompetenz in den Bereichen Digitalisierung und Geschäftsmodell-Innovation und bieten diese Expertise den Bereichen im Kerngeschäft als Entwicklungspartner an. Wir gehen alle Themen mit einer sehr starken Marktsicht an. Heißt: Wir beschäftigen uns mit Problemen und Kundenbedürfnissen, die wir im Markt sehen, und versuchen, darauf Lösungen aufzusetzen. Das ist für ein Traditionsunternehmen aus dem Industriebereich eine neue Herangehensweise, sich von der Innensicht zu lösen. Wir kommen vom Markt her, wir machen Projektarbeit, unterstützen die Divisionen. Zum Beispiel haben wir im Hochbau-Bereich die ersten Smart-Home-Produkte von Rehau unterstützt mit Hardware-, aber auch Backend-Entwicklung oder mit Smartphone-Apps. Solche Projekte machen ungefähr 20 Prozent unserer Aktivität aus.

Und die übrigen 80 Prozent?
Die investieren wir in die Gründung von eigenen Ventures. Von der Inkubation bis zum Marktstart und zum Hochskalieren schaffen wir neue Geschäftseinheiten. Das ist inzwischen unser Hauptauftrag. Wir haben jetzt drei interne Markt, weitere sollen folgen. Wenn wir mit den Divisionen im Kerngeschäft etwas entwickeln, bewegt es sich meist im unmittelbaren Umfeld oder dehnt die Grenzen des Kerngeschäfts etwas aus. Was wir selbst machen, geht zum Teil deutlich darüber hinaus. Wir kommen zwar aus demselben Marktumfeld, aber suchen auch Lösungen, die gar nichts mehr mit industrieller Fertigung zu tun haben, wie rein software- oder servicebasierte Geschäftsmodelle.

Sie kommen aus der Inhaberfamilie und müssen das große Ganze im Blick haben. Welche Bedeutung hat New Ventures für die zukünftige Entwicklung von Rehau als Gruppe?
Rehau blickt auf eine fast hundertjährige Geschichte zurück. Wir sind eine Ausgründung aus der 1907 gegründeten Fränkischen Lederfabrik. 1948 gab es eine Ausgründung, um sich mit dem Thema Kunststoff auseinanderzusetzen. Heute sind wir weltweit tätig mit 20.000 Mitarbeitern. Wir haben in den 100 Jahren immer wieder signifikante Transformationen durchlaufen. Ich glaube, dass wir mit New Ventures eine Plattform haben, um uns wieder mit ganz neuen Themen auseinanderzusetzen. Ob wir in weiteren 100 Jahren eher eine Software-Company sind, weiß ich heute nicht. Aber zumindest haben wir eine Plattform, um langfristig wieder ganz neue Entwicklungsrichtungen zu erschließen. Das ist im Moment unsere Aufgabe. Die ist sicherlich wichtig, aber wir fangen ganz klein an. Es wird ein langer Weg sein, stark von Trial und Error geprägt. Vielleicht ist es wichtig, dass ich aus der Unternehmerfamilie das begleite, um dem ein gewisses Gewicht zu verleihen und auch, um Entscheidungen zu treffen, die für angestellte Manager schwierig zu treffen wären. Es ist schon mit viel Risiko verbunden, was wir hier machen.

Sie sprachen von drei Ventures. Welche sind das?
Eines ist in Deutschland angesiedelt. Es heißt rebado.de, vermarktet verschiedene Produkte für die Badsanierung in einem zweistufigen Ansatz direkt an Installateure und kommuniziert sehr wirksam in Richtung Endkunde. Es ist aus dem Möbelbereich heraus geboren. Wir haben gemerkt, dass Laminate, die wir sonst an die Küchenmöbelindustrie liefern, auch anders eingesetzt werden können, und aus dieser Idee ein neues Geschäftsmodell entwickelt und ein neues Produktsortiment kreiert. Das Zweite ist ein China-Thema. Über Handelspartner bringen wir Sanierungslösungen für das Eigenheim dort direkt an den Endkunden. Und als Drittes haben wir eine Kompetenz für E-Commerce aufgebaut. Wir bringen eine ganze Bandbreite an Produkten aus dem eigenen Haus oder auch Handelsware über verschiedene E-Commerce-Handelsplätze in den Markt. Auch hier kommen wir von einer Dreistufigkeit in den zweistufigen oder Direktvertrieb.

Was ist die Gemeinsamkeit dieser Ventures?
Das Thema, das sich durchzieht: Wir schauen uns traditionelle Vertriebswege an und versuchen, uns neu zu positionieren. Dabei nutzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung. Social-Media-Marketing ist natürlich sehr wichtig und auch die Sichtbarkeit in Richtung Endkunde.

Uns würde natürlich interessieren, wie die Rehau-Gruppe generell durch diese schwierigen Monate der Pandemie gekommen ist.
Wir haben uns sehr schnell auf die riesigen, weltweiten Herausforderungen der Pandemie eingestellt. Hier hat die gesamte Organisation enorm viel geleistet. Doch wir haben schon zuvor begonnen, vieles zu verbessern. Das Unternehmen hat in den letzten zwei, drei Jahren enorm viel getan, um Prozesse zu optimieren, um sich kundenorientierter aufzustellen. Davon profitieren wir heute und können sagen, wir haben in den meisten Unternehmensbereichen wirklich einen guten Lauf.

Mit New Ventures bewegen Sie sich im Bereich New Economy. Wie schwierig ist es, am Standort Rehau spezialisierte Mitarbeiter zu gewinnen. Oder können Sie die größtenteils aus dem Konzern heraus entwickeln?
Wir haben es tatsächlich geschafft, auch im Raum Rehau für die Bereiche Software-, Hardware-Entwicklung und Elektronik die richtigen Leute zu finden. Wir haben auch eine Niederlassung in München plus unsere internationalen Hubs in Shanghai und Washington. Schon vor der Pandemie haben wir immer sehr den Ansatz von Distributed Work verfolgt. Wir verteilen verschiedene Aufgaben innerhalb des Netzwerkes. Wir sind auch im Hiring gar nicht mehr so standortgebunden. Wir haben Kollegen, die sitzen in Hamburg oder in Berlin, und die können genauso gut im Team an Projekten arbeiten. Wenn wir im Einzugsgebiet eines Standortes niemanden finden, dann können wir gelegentlich ausweichen und Leute von weiter herholen.

Welche Qualifikationen müssen Mitarbeiter bei New Ventures mitbringen?
Im Bereich Geschäftsmodell-Innovation haben wir eine sehr bunt gemischte Truppe von Bachelor- und Master-Abgängern bis hin zu Leuten, die schon Berufserfahrung hatten. Die eine Voraussetzung gibt es nicht. Man muss Lust haben, Ideen zu entwickeln und sie bis zu einer gewissen Reife zu bringen. Im Bereich Hardware- und Software-Entwicklung gibt es dagegen ganz konkrete Anforderungsprofile. Und für die Führung von Ventures sind Unternehmertypen gefragt oder auch Vertriebsleute.

Haben Sie vor, diese Unternehmen irgendwann zu verkaufen?
Es ist zu früh, das zu sagen. Das Luxusproblem, was man mit einem sehr erfolgreichen Venture macht, haben wir leider noch nicht. Darüber reden wir vielleicht in zwei bis drei Jahren. Wir sind sicherlich offen für Kooperationen oder Joint Ventures, aber wir möchten nachhaltige Werte schaffen. Ein Verkauf ist nicht unbedingt das Ziel.

An das Stichwort Kooperationen schließt sich gleich die Frage an: Ist es so, dass New Ventures auch für Kooperationspartner aus anderen Sparten tätig werden könnte? Mal als Beispiel die jüngste Kooperation mit Pfleiderer.
Entwicklungsaufträge von Dritten sind grundsätzlich schon denkbar. Im Moment sind wir aber gut ausgelastet. Sie haben vorhin gefragt, ob wir auch investieren. Das würden wir im Moment nicht machen. Wir sind ein eigener Inkubator und wollen die Ventures großziehen.

Warum eigentlich nicht? Das könnte ja interessant sein.
Dafür müssen wir überhaupt einmal die Kompetenz aufbauen. Wir sind schon bodenständige Leute hier bei Rehau und keine Banker oder Venture-Capital-Spezialisten.

Darum bleiben Sie in den Branchen, von denen Sie etwas verstehen?
Wir haben zwei Suchfelder definiert. Das eine ist Digital Construction: alles, was mit Bauwesen zu tun hat. Wir gehen davon aus, dass man mit digitalen Hilfsmitteln zu Effizienzsteigerungen beitragen kann. Das andere ist Better Living. Dabei geht es darum, Mehrwerte für alles zu schaffen, das mit dem Wohn- und Arbeitsumfeld zu tun hat. Das deckt sich stark mit unserem Kerngeschäft, aber wir sind offener bei den Geschäftsmodellen.

Ist es denn der Fokus der Gruppe und auch bei New Venture, Komplettanbieter zu sein?
Das Kerngeschäft entwickelt sich nach wie vor weiter auch bei den Wertschöpfungsketten. Früher haben wir Einzelkomponenten produziert, heute sind wir häufig als Systemlieferant unterwegs. Da gibt es schon eine gewisse Entwicklung. Vielleicht gibt es Themen, wo New Ventures beisteuern helfen kann, aber das ist Hauptaufgabe der Divisionen. Innovationsprozesse gibt es gruppenweit.

Sie hatten eingangs gesagt, es geht um Problemlösungen. Wie lange dauert es von der Problemerkennung bis zur marktreifen Lösung?
Wir müssen da sehr methodisch vorgehen. Wir träumen weder herum, noch fällt uns etwas in den Schoß. Nur mit Disziplin kann man eine gute Trefferquote erreichen. In diesem Prozess gibt es verschiedene Phasen: In der Empathiephase versucht man zunächst, eine Marktsituation zu verstehen und Problemfelder zu identifizieren. Darauf folgen dann sogenannte Ideation-Runden, in denen man relativ schnell eine Vielzahl von Ideen generiert, aber konsequent filtert. Das kann für ein Projekt wenige Tage in Anspruch nehmen. Dann hat man von siebzig Ideenansätzen auf drei, vier reduziert, die man dann ebenfalls noch einmal auf den Prüfstand stellt. Anschließend geht man in eine Exploration. Hier sprechen wir dann schon über mehrere Wochen pro Ansatz. Man klärt die technische Machbarkeit grob ab und entwickelt Ideen zur Monetarisierung. Dann kommt das Geschäftsmodell wieder auf den Prüfstand. Erst wenn es diesen Stage-Gate überlebt, geht es in die sogenannte Acceleration. Da werden dann Monate investiert, und am Schluss hat man eine Go-, No-Go-Entscheidung über den Markteintritt.

Dann gibt es einen Businessplan?
Ja. Wir wissen, was die Entwicklung kostet, welche Ressourcen gebraucht werden. Doch wenn die Entscheidung für den Markteintritt fällt, sind wir immer noch nicht im Markt. Das braucht dann nochmal sechs bis zwölf Monate, je nach Komplexität. Zusammengefasst heißt das, dass es von der ersten Idee bis zur Umsetzung mindestens zwölf bis 18 Monate dauert.

Was ist das Schwierigste? Ein Produkt beim Endverbraucher bekannt zu machen?
Wir fangen grundsätzlich beim Endverbraucher an. Wir wissen, was er braucht, und haben eine gute Vorstellung davon, wie er sich informiert. Entsprechend müssen wir eine Kommunikationsstrategie aufsetzen. Bei diesen Projekten ist Marketing immer ein wesentlicher Anteil des Budgets. Aber das Ganze bekannt zu machen, braucht meistens genauso viele Ressourcen wie die technische Entwicklung.

Welche Mittel nutzen Sie dafür?
Social Media und Landing Pages. Wir testen so manchmal auch Ideen. Wir setzen eine Landing Page auf, machen über Instagram oder Facebook darauf aufmerksam. So generieren wir Traffic und merken, ob es interessiert oder wir völlig auf dem Holzweg sind. Wenn es interessiert, können wir auch Kontakt aufnehmen und in Einzelgesprächen erfragen, was die Leute brauchen.

Woher haben Sie Ihr Wissen darüber?
Vieles ist angeeignet. Wir haben Mitarbeiter, die mit Social Media aufgewachsen sind. Jeder in unserem Team kann schnell mal eine Landing Page zimmern. Wir haben uns natürlich zunehmend spezialisiert und Erfahrung aufgebaut. Auch E-Commerce ist eine eigene Disziplin, die wir uns angeeignet haben. Und wir haben Personen gesucht, die viel Wissen mitbringen.

Waren Sie selbst länger in Amerika oder auf Start-up-Tour? Wenn Sie über das Thema sprechen, klingt es, als hätten Sie einen Hintergrund.
Ich habe einen Teil meiner Kindheit in den USA verbringen dürfen und eine starke Beziehung zu Land und Gesellschaft. Ich bin auch immer wieder mal in den USA, habe Freunde und Bekannte dort. Ich selbst habe mich vor dem Studium selbstständig gemacht und ein, zwei Start-ups gegründet. Dann habe ich aber entschieden, doch zu studieren. Auch jetzt während meiner Zeit in Asien habe ich die Gelegenheit gehabt, für Rehau verschiedene neue Geschäftsmodelle aufzusetzen. Die Zeit hat mich sehr geprägt. China ist ungeheuer fortschrittlich, was Digitalisierung anbelangt.

Vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrung aus Asien und den USA – wo steht der deutsche Mittelstand? Wo steht unsere Branche?
Wenn man nach vielen Jahren in Asien wieder nach Mitteleuropa zurückkommt, schätzt man das Wertefundament. Hier ist alles sehr gefestigt und auch zuverlässig. Das ist mit vielen Vorteilen und Stärken verbunden. Aber auf der anderen Seite sieht man, wie schnell sich Märkte verändern. Nicht nur durch eine Pandemie, sondern auch durch digitale Disruption. Und da muss ich schon feststellen, dass sich gerade traditionelle Industrieunternehmen oftmals nicht besonders stark mit diesen Themen auseinandersetzen. Es wird auf die Vergangenheit gesetzt, auf diese Stärken, und wenig Zeit und Energie in mögliche zukünftige Entwicklungen gesteckt. Was in China passiert, ist ungeheuer spannend. Anbieter, die aus dem Bereich IT kommen, stellen das ganze traditionelle Möbel-Geschäftsmodell auf den Kopf und setzen nur noch auf individuelle Lösungen.

Nils Wagners Blick auf die Entwicklungen im chinesischen Möbelmarkt haben wir vor einigen Wochen auch als Videointerview veröffentlicht, schauen Sie mal rein.

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