Westag

Transformation

09. August 2021, 17:52
Im Gespräch in Rheda-Wiedenbrpck: Outsider, Michael Sindram und Salvatore Figliuzzi

Neue Führungsspitze, neuer Name, neue Ideen: Wie die Westag gerade neu erfunden wird.

Wer schon mal in Rheda-Wiedenbrück war – und das war natürlich jeder Möbler schon mal –, der ist auch schon zigmal an diesem Megakomplex vorbeigefahren. Weit über einen Kilometer zieht sich das Firmengelände der Westag AG. Als Nicht-Ostwestfale hat man manchmal den Eindruck, Rheda-Wiedenbrück ist: historische Altstadt, Tönnies und die Westag.

Westag & Getalit AG – so hieß das Unternehmen bis vor ein paar Tagen. Getalit wurde zum 1. August aus dem Firmennamen gestrichen. „Wir heißen ja auch nicht Westag & Getalit & Türen AG“, sagt Michael Sindram und schmunzelt. Getalit ist seit den 60er Jahren ein bestens bekannter Markenname für ein Material, das früher jeder kannte. Früher. Die Getalit-Geschichte passt gut zum Gesamtbild der Westag in den vergangenen Jahrzehnten mit Fokus auf Produkte und die eigene Ingenieurs- und Handwerkskunst. Aber reden wollte darüber niemand. Muss ja keiner wissen. So war das.Heute steht Sindram in der Alten Fügerei auf dem Werksgelände der Westag, in einem superfrisch aufgemachten neuen Showroom. Salvatore Figliuzzi steht auch hier. Beide haben gute Laune. Sie kennen sich aus gemeinsamen Zeiten bei der Wrede Holding. Sindram war dort CEO, bevor Thomas Wrede Interprint an den Japaner Toppan verkaufte (INSIDE 1070/71). Und Figliuzzi war Salvatore Figliuzzi, der Marketing- und Design-Chef bei Interprint in Arnsberg.

Nun ist Sindram CEO der neuen Westag, Figliuzzi verantwortet Marketing und Design, hat Prokura und schiebt mit an. Mit Jens Richmann, vormals Hülsta, kam auch ein neuer Einkaufschef. Ex-Pfleiderer-Legende Rainer Zumholte ist der Vertriebsvorstand mit Branchenkenner Werner Ebenhoch an seiner Seite. Die 1.240 Mitarbeiter starke Westag hat ihre Führungsspitze komplett neu aufgestellt – und die lässt nun keinen Stein auf dem anderen. Zwei Standorte sind neu auszurichten: Rheda-Wiedenbrück mit gut 1.000 Mitarbeitern und der Sperrholz-, HPL-, der Türen- und der Zargen-Produktion; der Standort Wadersloh mit der Arbeitsplattenfertigung (fast 900.000 Arbeitsplatten gehen im Jahr raus), der Oberflächenfertigung und dem eigenen Mineralwerkstoff Getacore.

Michael Sindram

Michael Sindram

„120 Jahre waren wir erfolgreich. Darauf können wir stolz sein. Aber nun müssen wir an unsere Zukunft denken.“ So sagt das Sindram. Und meint den Satz verdammt ernst. Seit gut einem Jahr ist er da. Und schon jetzt ist die Westag nicht wiederzuerkennen. Die Mittelstands-AG mit der wohl weitverzweigtesten und tiefsten Fertigungstiefe in der Branche muss sich konzentrieren – „auf das, was wir am besten können“, sagt Sindram. „Industriell, aber handwerklich gefertigte Endprodukte geliefert bis zum Kunden – mit echter Losgröße 1 und Logistiknetz in der DACH-Region.“ Der hauseigene Tiefdruck wurde geschlossen, die Imprägnierung vor zwei Wochen auch. Sindram: „Wir haben eine zu hohe Anzahl an Fertigungsschritten inhouse zu orchestrieren. Du musst heute aber bei jedem Fertigungsschritt wettbewerbsfähig sein. Das konnten wir bei der Tiefe nicht leisten. Und das war ein Problem.“

Ein Problem war auch, dass zu viele Marktsegmente parallel angesprochen wurden und damit in Konflikt zueinander standen. So wurden vertraglich garantierte Lieferzeiten geblockt, die in anderen Segmenten fehlten. Sindram: „Wir müssen uns nicht um die letzte Türe prügeln. Deshalb haben wir uns in den letzten Monaten auf klar definierte Marktsegmente konzentriert und auch bewusst Marktanteile abgegeben – mitten in der Transformation und mitten in der Corona-Krise. Das war ein Kraftakt, aber er war notwendig.“

Salvatore Figliuzzi

Salvatore Figliuzzi

Nun geht es vorwärts: Figliuzzi hat mit seinem Team einen Showroom in eine Werkshalle von 1910 gebaut, der klarmacht, wo die Reise hingeht: mittenrein in die Moderne. Ein großer Getalit-Relaunch, die ganze Bandbreite der Materialien bis hin zu Fenix wird dargestellt, Mix and Match, Farben, Lösungen. Neben Architekten, Großhändlern, Ladenbauern werden auch die Küchenhersteller eingeladen. Figliuzzi: „Massenmarkt mit hohen Stückzahlen, das können andere besser. Aber im hochwertigen, kundenspezifischen Segment, da wollen wir noch stärker rein. Und das werden wir auch schaffen. weil es einfach zu uns passt.“ Das Markenportfolio in der Oberfläche reicht von Getalit bis Fenix, von Getacore bis zur Außenfassade Pura. Das ist ein Pfund. Figliuzzi: „Aber wir müssen dem Markt viel besser erklären, was wir alles können.“

Bleibt die Frage, die sich im Markt zuletzt einige gestellt haben. Figliuzzi zur Westag? Wie kam‘s? Figliuzzi: „Ich habe eine neue persönliche Herausforderung gesucht. Ich wollte mich weiterentwickeln. Und das kann ich hier.“

 

Eine Gruppe formiert sich

Zwischen 2016 und 2020 musste die Westag & Getalit AG einige Umsatz-Millionen abgeben. In den Jahren 2018 bis 2020 sanken die Absätze jeweils um 0,6 bis 1 Prozent, im Corona-Jahr 2020 um 0,7 Prozent. 2016 und 2017 hingegen waren jeweils von einem nennenswerten Wachstum geprägt: So wurden 2016 Waren für 233 Mio Euro verkauft und dieser Wert 2017 mit einem Umsatz von 234,4 Mio Euro übertroffen. Die drei Katerjahre innerhalb dieses Fünf-Jahres-Zeitraums sorgten dafür, dass die Umsätze von 233 Mio Euro zunächst auf gut 230 Mio Euro und zuletzt 229 Mio Euro sanken. Operativ gab es allerdings keinerlei Probleme: Das bereinigte EBITDA nach IFRS belief sich im Jahr 2020 auf 17,5 Mio Euro nach 15,5 Mio Euro im Vorjahr. Die Exportquote des Konzerns wurde in den fünf Jahren von 21,5 Prozent auf 25,2 Prozent erhöht. Seit 2020 werden auch die Produkte der Schwestergesellschaften in DACH vermarktet – eine der Folgen des Kaufs im Jahr 2018. Bekanntlich gingen schlussendlich 83,4 Prozent der Stimmrechte an die 2008 gegründete Broadview Holding aus dem niederländischen ‘s-Hertogenbosch. Diese hat sich über die Jahre einen Cluster aus Werkstoffspezialisten zusammengekauft, die im Jahr 2019 für etwa 1,2 Mrd Euro Umsatz standen. Damit ist Westag nun im dritten Jahr mit Arpa Industriale, Trespa International und seit 2019 auch mit Formica und deren Tochter Homapal Teil einer großen Familie geworden. Seit Mai 2020 gehört mit Direct Online Services (DOS) auch ein großer Multichannel-Händer im Bereich Küche zur weiteren Verwandtschaft. All diese Verbindungen könnten dem 1901 gegründeten ostwestfälischen Traditionsunternehmen künftig noch viele Möglichkeiten eröffnen. Denn an Kapital dürfte es auch künftig kaum mangeln, schließlich wird Broadview von der HAL Holding N.V. kontrolliert, einer börsennotierten Holdinggesellschaft, deren Geschichte bis 1873 zurückreicht und die auf den Antillen sitzt. Dieser auf dem zum Königreich Niederlande gehörenden Curaçao beheimatete Trust brachte es im Jahr 2020 auf kumulierte Firmenwerte von rund 20,3 Mrd Euro (Vorjahr: rund 19,8 Mrd Euro). HAL wird mehrheitlich der niederländischen Milliardärs- und Unternehmerfamilie Van der Vorm zugerechnet. Die verschwiegene Rotterdamer Familie – deren letztes öffentliches Statement stammt aus dem Jahr 1984 –, mit 11,2 Mrd US-Dollar (2019) Vermögen die zweitreichste in den Niederlanden, hat den Grundstock ihres Vermögens mit der Reederei gelegt, was man heute noch aus dem Namen der Holding herauslesen kann: Die drei Buchstaben verweisen auf die Holland-America Line. Allerdings setzt der Clan seit 1988 nicht mehr auf Schifffahrt – und hat in den letzten Jahrzehnten diversifiziert. Und durch den Verkauf 2018 konnte Pedro Holzinger, Vertreter der bis dahin die Westag & Getalit AG dominierenden Liechtensteiner Familienstiftung Gethalia und Aufsichtsrat, den ursprünglich der Familie Thalheimer gehörenden Werkstoffspezialisten in eine Gruppe einbringen, von der man, da sind sich INSIDER sicher, im Oberflächenmarkt in Zukunft wieder deutlich mehr hören wird.

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